Pferd und Mensch – ein anatomischer Vergleich

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Durch die Reiterei meiner Tochter bin ich erstmals auf die Idee gekommen, mich näher mit der Anatomie von Pferden zu beschäftigen. Auf den ersten Blick kann man sagen, wir sind gleich. Rein anatomisch betrachtet gibt es keine großen Unterschiede zwischen Pferd und Mensch. Knochen und Muskulatur haben größtenteils sogar die gleichen Namen. Stellt man sich ein Pferd im aufrechten Gang vor – oder einen Menschen auf allen Vieren – sehen wir uns zum Verwechseln ähnlich. Erhebliche Unterschiede gibt es dann aber doch, zum Beispiel in der Biomechanik.

Große Unterschiede gibt es natürlich bei der Kieferform. Das lässt sich leicht mit der Art unserer Ernährung erklären. Während Pferde ihre Nahrung abzupfen und dann zermahlen, gehören wir ganz klar zu den Fleischfressern mit Reißzähnen, zumindest rudimentär ausgebildet.

Im Laufe der Jahrtausende hat sich herausgestellt, dass Pferde einen längeren Rücken und mehr Volumen brauchen, um den Gegebenheiten in der Steppe gerecht zu werden. Dadurch unterscheiden sich die Anzahl der Brustwirbel und Rippen. Bei uns Menschen sind die Schwanzwirbel mittlerweile zum Steißbein verkümmert. Dafür gibt es bei Pferden das Schlüsselbein nicht, da es schlichtweg keine Funktion mehr erfüllt hat im Laufe der Evolution.

Das sind alles kleine Unterschiede. In der funktionellen Anatomie sieht das ganz anders aus. Denn die Tatsache, dass wir angefangen haben, aufrecht zu gehen, hat unsere Biomechanik total verändert. So sind die vier Beine eines Pferdes so konstruiert, dass die Vorderbeine mit ihrer Säulenform ausschließlich zum Tragen vorgesehen sind, während die Hinterbeine schon durch die Stellung der Gelenke für den Schub sorgen.

Die Anatomie des Pferdes

Obwohl beim Pferd und beim Menschen die Schulterblätter nur durch eine bindegewebige Verbindung Kontakt zum Brustkorb haben, werden die dazugehörigen Muskeln beim Menschen deutlich weniger beansprucht, da beim Vierbeiner allein diese Muskeln den Rumpf tragen müssen. Beim Menschen wird der Rumpf durch eine Vielzahl von Muskeln stabilisiert, der Schulterblattmuskulatur fällt keine so große Bedeutung zu. Das rührt auch daher, dass die Schulterblätter keine rein stabilisierende Funktion haben, denn wir stützen uns ja nicht dauerhaft auf unseren Händen ab. Außerdem müssen sie nicht das Gewicht des Rumpfes gegen die Schwerkraft tragen, sondern lediglich unsere Arme.

Bauchmuskulatur immens wichtig

Die Bauchmuskulatur spielt sowohl beim Menschen, als auch beim Pferd eine entscheidende Rolle. Sie ist wichtig zur Stabilisation der unteren Wirbelsäule. Durch den langen Rücken der Pferde und die unterschiedliche Einwirkung der Schwerkraft, ist die Rolle der Bauchmuskulatur bei den Vierbeinern allerdings noch bedeutender. Zumal das Gewicht des Reiters und das der Verdauungsorgane noch zusätzlich getragen werden müssen. Während unsere Bauchmuskulatur hauptsächlich beim Stehen, Gehen und Heben eine Rolle spielt, muss die der Pferde fast 24 Stunden am Tag arbeiten.

Unsere Gliedmaßen und die der Pferde sind rein anatomisch nahezu identisch. Die Funktion aber unterscheidet sich grundlegend. Während wir über fünf Finger und Zehen je Seite verfügen, sind diese bei Pferden fast komplett verkümmert. Es ist nur noch das jeweils dritte Endglied vorhanden. Diese vier „Zehen“ tragen das gesamte Gewicht des Pferdes. Die zweite und fünfte „Zehe“ sind noch als Griffelbeine vorhanden, haben jedoch keine Funktion mehr. Durch diesen Umstand werden die Hand- und die Fußwurzeln funktionell ganz anders belastet als beim Menschen. Daher ist auch der relativ komplexe Fesselträgerapparat immens wichtig.

Man könnte durchaus auf die Idee kommen, dass es einfacher ist, auf vier Beinen zu laufen, als auf zwei, weil die Anforderungen an das Gleichgewichtssystem vermeintlich geringer sind. Allerdings ist es koordinativ eine große Herausforderung, die vier Beine in jeder Gangart taktmäßig zu bewegen. Dazu kommt, dass das Pferd auch noch einen Reiter auf seinem Rücken ausbalancieren muss.

Gute Ausbildung ist wichtig

Ich denke, dass es so nochmal klarer wird, wie wichtig eine gute Ausbildung von Pferd und Reiter ist und dass die Skala der Ausbildung der FN durchaus eine große Bedeutung für die Pferdegesundheit hat. Ein Pferd, das nicht geradegerichtet, taktmäßig und losgelassen gehen kann, wird auf Dauer Verletzungen davontragen und mit Gelenk- und Rückenproblemen zu kämpfen haben.

Der Umstand, dass beim Pferd das Kiefergelenk und das Kreuzbein durch zwei große Muskeln und bindegewebige Verbindungen direkt miteinander verbunden sind, spielt bei der funktionellen Anatomie und auch in der Reitlehre ebenfalls eine bedeutende Rolle.

So gibt es viele Beispiele, dass sich die Funktion der Muskulatur trotz sehr ähnlicher anatomischer Verhältnisse komplett geändert hat.  Von daher ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, dass jeder Reiter ein Grundverständnis für die funktionelle Anatomie des Pferdes hat und gewisse Zusammenhänge erkennen kann.

Zum Thema „Pferd und Mensch – ein anatomischer Vergleich“ hält Tanja Witte am Donnerstag, 25. November, um 19.30 Uhr ein Webinar.

Als Human- und Veterinär-Physiotherapeutin ist es Tanja Witte ein Anliegen, das Reiten für Pferd & Reiter zu einer gesunden und harmonischen Angelegenheit zu machen. Durch ihre jahrelange Erfahrung und die Ausbildung zur Tierphysiotherapeutin hat sie sich auf eine ganzheitliche Behandlungsmethode spezialisiert. Nicht nur das Tier steht im Mittelpunkt ihrer Arbeit, sie setzt auch beim Reiter an. Mit gezieltem Training und Physiotherapie beseitigt sie beiderseits Bewegungseinschränkungen mit dem Ziel, dass Pferd und Reiter lange gesund und zufrieden zusammenarbeiten.

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